13. Februar. Ich poste auf Facebook eine kurze Anfrage im Bekanntenkreis, wo man denn am Besten hingehen sollte, stundenlange Rumsteherei muss ja nicht langweilen, es kommt keine Antwort. Also erstmal zum Güntzplatz. Als wir an der Synagoge aussteigen, sind hunderte Menschen bereits dabei, sich zur Menschenkette zu formieren, auch wenn das noch eine Weile hin ist.
Die Pillnitzer Straße ist ab Serumwerk gesperrt, die ganze Straße scheint ein einziger Blechquader aus Polizeiwannen zu sein, man kommt über die Wege hinter den Häusern aber ohne Probleme zum Benno-Gymnasium und landet auf dem Güntzplatz. Vor uns läuft ein Punk in kurzen! Hosen, in beiden Arschtaschen je ein Sterni.
Ich bin nicht gut im Menschenmengenzählen, der Güntzplatz ist jedenfalls ziemlich voll. Wir umrunden die Massen ein paar Mal, versuchen, im Gewirr Leute zu treffen, wandern aber nach einer Weile weiter zum Straßburger Platz. Die News tröpfeln nur spärlich rein, meine 100 MB-„Flat“rate lässt Coloradio nicht zu, on Air wird aber noch nicht gesendet. Ich verborge das Handy zum Chatten an meine Begleiterin, wir stehen ansonsten rum.
Eine Gruppe sechzehnjähriger mit schwarzen Dreiecktüchern vorm Mund tut wichtig, man wirft sich gegenseitig und anderen das Fotografieren vor, vielleicht ahnen sie schon, dass manche Bilder Jahre später peinliches Erröten hervorrufen werden. Ich erzähle meiner Begleitung, dass bestimmte Menschentypen komischerweise sowohl optisch als auch vom Benehmen her immer wiedergeboren werden, die jugendliche Gruppe erinnert mich doch stark an einige Weggefährten aus früheren Hausbesetzerzeiten, nach denen jeden Abend Angriffe durch Faschos und Polizei zu fürchten waren, immer standen die Feinde schon hinter der nächsten Ecke, Hauptsache Adrenalin. Wirklich gekommen sind sie zwei oder dreimal.
Die Geschichten von damals langweilen meine Begleiterin erwartungsgemäß, Chatten ist spannender. Ab 18:00 Uhr setze ich mir die Kopfhörer auf und höre immer mal wieder in die aktuelle Großwetterlage rein, wundere mich ein bißchen, was die Nazis am Strehlener Bahnhof und am Hauptbahnhof eigentlich so vorhaben, umkreise hin und wieder die anderen Rumstehenden. Selbstverständlich müssen wir auch den Tee kosten, der laut Becheraufdruck mit links zu halten ist und nicht sonderlich schmeckt, mir fehlt der Zucker, aber er ist schön heiß. Da er nach Aussage des Austeilenden fast alle ist, posten wir noch schnell auf Facebook, dass wir nun deshalb die Blockade wechseln müssten, vielleicht trifft man ja doch einen Bekannten, dann beobachten wir, wie die Delegierten sich über eine Lautsprecherdurchsage zusammentrommeln lassen. Ich halte einen Kurzvortrag über das Chaos, welches das zentrale und mir persönlich mit großem Vorsprung sympathischste Charakteristikum der Linken ist, ernte eine hochgezogene Braue und dann nur noch einen anderswo weilenden Blick, wir ziehen weiter, Grunaer Straße, Richtung Pirnaischer Platz.
Kurz vor der Mathildenstraße ist alles zu. Ein rot-weißes Absperrband trennt die Guten von den weniger Guten, wir gehören anscheinend zu Letzteren und dürfen nicht durch. Niemand darf durch. Gemeinsam mit aus dem Nichts aufgetauchten älteren Menschen, sicherlich zwanzig an der Zahl, weichen wir in die Hinterhöfe Richtung Seidnitzer Straße aus, scheitern aber wieder an der Mathildenstraße und wenden uns daher in die andere Richtung, schneiden beinahe die Cockerwiese an und bewegen uns mit einem nun ziemlich großen Pulk in Richtung Skaterrampe. Die Delegierten scheinen das auch beschlossen zu haben. Bei Coloradio kommt ein sehr lustiges Lied von Kristin und den Bullen, die vor ihrem Fenster Actionfilm spielen, wir lachen im Gehen und hätten gern gewusst, wie das Stück heisst. Auf Höhe des M&M Computerladens fällt mir ein, dass kleinere Kopfhörer günstiger und vor allem im Ernstfall schneller zu entfernen oder einohrig zu tragen wären, der Laden hat aber leider schon zu, aus dem Inneren winkt mir der Inhaber – zumindest sah er so aus – freundlich zu, versteht mein Anliegen auch, hat aber den Schlüssel nicht parat oder ahnt, dass ich mich so schnell ohnehin nicht entscheiden könnte und lange nach dem richtigen Dingern suchen würde.
Die St. Petersburger ist voll. Richtig voll. Die Menschenkette ist seit geraumer Zeit zu Ende, ein nichtendenwollender Strom an Menschen fließt in Richtung Hauptbahnhof. Im Radio wird durchgesagt, dass am Hauptbahnhof einige hundert Trauerärschlinge feststecken und man weiß, dass deren Tag gelaufen ist. Als wir auf Höhe Ferdinandplatz sind, wird über einen Lautsprecherwagen eine Richtungsänderung bekanntgegeben, brav drehen sich alle um und gehen zurück Richtung Bürgerwiese/Georgplatz. Wir stehen eine Weile am Rand und beobachten die Vorüberziehenden, dann stapfen wir quer über die Wiese vorm Club Aquarium Richtung Lennèplatz, möglichst Anschluss an eine größere Gruppe suchend. Am Lennèplatz sollen nämlich mehrere hundert Neonazis von allen Seiten blockiert worden sein, aber wer weiß schon, was er nicht selbst gesehen hat.
An der Blüherstraße stehen unzählige Wannen, an den Büschen die dazugehörigen Besatzungen, die sich dort erleichtern. Ich will gerade einen neuen Kurzvortrag über den Gebrauch von Urinalkondomen in der Segelfliegerei beginnen, da kommen uns unbekannte Leute panisch entgegengerannt. Wir würden an die falschen Schwarzgekleideten geraten, nun hieße es, die Beine in die Hand zu nehmen und zu flüchten. Wir machen fünfzig Meter mit, die Kopfhörer fallen mir dabei wieder ein, aber niemand folgt uns, die Neugier siegt. Wenn das schon positiv hervorgehobene, von mir gemochte und vor allem als natürlich akzeptierte Chaos nicht wäre, hätte ich bitte gern, dass die Guten gefälligst bunt herumzulaufen haben. Erst recht an solchen Tagen.
Wir wagen uns wieder Richtung Blockade und stellen beruhigt fest, dass dort einerseits viele Menschen sind und diese zweitens zu den „Richtigen“ gehören. Dann stehen wir rum. Tee gibt es keinen, bekannte Gesichter sind nicht zu sehen. Großgewachsene wie ich können in fünfzig Metern Entfernung schwarze Regenschirme und schwarz-weiß-rote Fahnen erkennen, ein stetiger Schneeballhagel fliegt in diese Richtung. Musik ist noch nicht zu hören. Aber es werden immer mehr Menschen. Hin und wieder eilen in Hooliganmanier Vermummte an uns vorbei und wieder zurück. Ich rede derweil mal wieder, diesmal von den unangenehmen Gefühlen, die action- und gewaltverliebte Menschen in mir auslösen und wie wichtig und vor allem zielführender eine sture Gewaltfreiheit ist, die ich aber bitte nicht mit der hingehaltenen zweiten Backe verwechselt sehen möchte. Und außerdem über das Wetter, ansonsten passiert nichts.
Doch, nach einer Weile kommt eine Samba-Gruppe in pinkfarbenen Puscheln und wir tanzen uns warm, bis uns langweilig wird und wir zurück zum Georgplatz wollen, nachsehen, was dort so los ist. Dort steht ein LKW mit Musik, es läuft hüpfbarer Electro und Ska. Wir bleiben eine Weile, am Hauptbahnhof ist immer noch alles blockiert, dort zieht es uns momentan aber nicht hin. Tee ist alle.
Nach dem dritten Lied bittet der DJ, nennt man den denn so, frage ich mich, er bittet uns jedenfalls alle, insgesamt ein paar hundert Menschen, Platz zu machen damit er wenden könne und, avanti, avanti, dem Wagen zurück zum Lennèplatz zu folgen, wir würden dort gebraucht.
Gebraucht zu werden ist ja für die Meisten was ganz Großes, so auch für uns. Wir rennen in lockerem Dauerlauf zum Lennèplatz, vor uns die Musik, neben uns viele Menschen, hinter uns davon noch mehr, darunter ältere und andere nicht ganz so schnelle. Die meisten johlen und lachen. Kurz vorm Lennèplatz hat sich die Anzahl der Polizeiwagen verzigfacht, man scheint die Straße sperren zu wollen. Das geht nun nicht mehr, zu viele Neuankömmlinge lassen dafür keinen Platz. Hin und wieder ist ein Fetzen einer Göbbelsrede zu hören, Wagnerklänge wehen vorbei, die Lufthoheit, wie die Trauernden zu sagen pflegen würden, hat aber eindeutig Skapunk, immer mal durchbrochen von ironischen Lautsprecherbemerkungen über braune Kacke, die von den Schuhen so schwer abgeht und ähnlichem. Da stehen wir wieder.
Als alle Gliedmaßen wieder kalt sind und kein richtiger Plan vorstellbar ist, wie das hier nun weitergehen soll, das Bild von der in die Enge getriebenen Ratte baut sich vor meinem inneren Auge auf, beschließen wir, langsam den Nachhauseweg anzutreten. Die offiziell genehmigte Trauerzeit ist ohnehin schon seit einer Weile vorbei, wir verbuchen den Abend als vollen Erfolg und beenden ihn mit einem zünftigen Spurt nach der Bahn, erreichen diese auch völlig außer Atem und merken erst beim Aussteigen, dass drei weitere Bahnen folgen.
Fazit:
Sinn und Unsinn, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Volksverhetzung, das Ding mit der Demokratie und so weiter will ich hier gar nicht diskutieren, das mache ich oft genug und ohnehin zusätzlich mit mir selbst. Dass mir Gewaltfreiheit wichtig ist, sollte deutlich erkennbar sein, davon möchte ich keine beteiligte Seite ausgeschlossen sehen. Mir gefiel besonders die Beobachtung, dass Dresden erst zur Menschenkette und dann zur Blockade geht, dass die Polizei dies nach meiner Einschätzung besonnen und beruhigend begleitet hat. Es bleiben zwei Wünsche: Diese Entwicklung sollte, gerade auch von der blockierenden Seite, also von uns, honoriert werden, mit entsprechendem couragiertem Verhalten innerhalb der eigenen Bezugsgruppen. Couragiert deshalb, weil es wahrscheinlich noch schwerer ist, den eigenen Leuten entgegen zu treten.
Der zweite Wunsch ist ganz pragmatisch: Zieht euch bunter an!
Zum Schluss ein dickes Danke, vor allem an Dresden Nazifrei, ohne deren beharrliches Wirken wahrscheinlich immer noch tausende Neonazis kämen, an Coloradio für die Berichterstattung, ohne die ich nie gewusst hätte, wie der aktuelle Stand ist, an die vielen, vielen Menschen, die auf ihr Herz und nicht auf die Theorie hören, an Helma Orosz, weil sie mir nicht übern Weg lief und an meine Begleiterin, weil sie ihre Chucks doch nicht angezogen hat und geduldig – wenn auch nicht immer ergriffen genug! – meinen Vorträgen lauschte.